«Eltern sollten keine Karriere-Coaches sein»

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften der Universität Freiburg. Sie forscht unter anderem im Bereich Berufsbildung und leitet heute das von ihr gegründete Forschungsinstitut Swiss Education. Wir haben mit ihr über das Berufsbildungssystem, über die Herausforderungen für Jugendliche im Berufswahlprozess und über die wichtige Rolle der Eltern gesprochen.

Frau Stamm, das Berufsbildungssystem der Schweiz ist international anerkannt und erhält oft Bestnoten. Sind die Vorteile der Berufsbildung auch hierzulande genügend bekannt?

Ich würde zwischen dem guten Ruf des Berufsbildungssystems und dem Wissen darüber unterscheiden. Schauen wir auf seinen Ruf, finden die allermeisten Eltern unser Berufsbildungssystem grossartig. Interessanterweise gibt es dann aber solche, die sich für ihre Kinder den gymnasialen Weg wünschen. Trotz Wohlwollen für die Berufsbildung. Andererseits gibt es Eltern, denen die einzigartige Durchlässigkeit des Schweizer Berufsbildungssystems zu wenig bekannt ist. Sie wissen nicht, dass ihren Kindern damit alle Wege offen stehen.

Woran liegt das?

Die Berufsbildung hat sich in den letzten fünfzehn Jahren enorm weiterentwickelt. Um als Lehrabgängerin oder Lehrabgänger an einer Universität zu studieren, musste man früher beispielsweise die gymnasiale Maturität nachholen. Heute ist dies einfacher. Mit einem BM-Abschluss können Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger nahtlos an einer Fachhochschule studieren. Und die sogenannte «Passerelle» ermöglicht den Zutritt zu den Universitäten und zur ETH. Diese Möglichkeiten sind in der breiten Öffentlichkeit jedoch zu wenig bekannt. Es kursiert weiterhin die falsche Vorstellung, dass nur jene Jugendliche eine Berufslehre machen, die es nicht ins Gymnasium schaffen.

Sehen Sie weitere Gründe, warum sich Jugendliche für den Berufsbildungsweg entscheiden sollten?

Dazu haben wir verschiedene Studien durchgeführt. Auffällig dabei ist, dass sich viele leistungsschwächere Jugendliche, die eine Berufslehre begonnen haben, dabei enorm entfalten konnten. Diese Jugendlichen haben die Berufsbildung mit Bestnoten abgeschlossen, konnten zum Teil an den Berufsmeisterschaften SwissSkills teilnehmen und so ihrer Karriere Aufwind geben. Ich denke, dieser Erfolg hat auch damit zu tun, dass diese Jugendlichen bei der Berufswahl ihren eigenen Neigungen und Interessen gefolgt sind bzw. diese bei ihrer Entscheidung in den Mittelpunkt gestellt haben.

Wie meinen Sie das genau?

Meines Erachtens haben Noten, wenn es um die Berufswahl geht, einen viel zu hohen Stellenwert. Sie bestimmen oft einseitig darüber, ob Jugendliche den allgemeinbildenden Weg oder die Berufsbildung wählen. Dabei müssten für die passende Berufswahl Kriterien wie persönliche Wünsche, Interesse und Neigungen ausschlaggebend sein. Hier helfen Lehrpersonen, die das Potenzial ihrer Schülerinnen und Schüler richtig einschätzen können. Und zwar unabhängig von rein schulischen Leistungen.

Welche Rolle spielen dabei die Eltern?

Im Berufswahlprozess ist die Rolle der Eltern entscheidend. Sie entscheiden oft bereits in der vierten oder fünften Klasse darüber, welchen Weg ihr Kind einschlagen soll. Sobald diese Kinder dann in die Oberstufe kommen, sind die Meinungen gemacht. Getreu dem Motto «Kein Abschluss ohne Anschluss» müssen wir Eltern deshalb möglichst früh aufzeigen, dass es in unserem Bildungssystem keine Sackgassen mehr gibt. Jugendliche können hierzulande mit einer Berufslehre in die Arbeitswelt einsteigen und auf unterschiedlichste Art Karriere machen, beispielsweise dank einer höheren Berufsbildung oder einer Hochschulbildung. Für diejenigen, die die Voraussetzungen mitbringen und motiviert sind, ist (fast) alles möglich. 

Oft haben Eltern auch eine sehr genaue Vorstellung davon, was aus ihren Kindern werden soll. Wird da auch ein Leistungsdruck ausgeübt?

Das ist leider oft so. Insbesondere in gut situierten Familien. Dabei sollten sich Eltern eher als Mentorinnen und Mentoren ihrer Kinder verstehen und nicht als deren Karriere-Coaches. Wünschenswert wäre, dass Eltern ihren Kindern helfen, den eigenen Weg zu finden. Dies gestützt auf die Interessen, Eignungen und Neigungen, die das Kind mitbringt. Es kommt aber immer wieder vor, dass Eltern ihre eigenen Wünsche in den Vordergrund stellen bzw. konkrete Vorstellungen davon haben, welcher Weg "der Beste" für ihr Kind ist. Was das Kind möchte, gerät dabei in den Hintergrund.  

Viele Kinder wissen doch noch gar nicht, was sie möchten.

Dies ist ein Aussage, die ich von Eltern oft höre. Ich wage aber, sie zu bezweifeln. Sicher gibt es solche Kinder. Doch weit häufiger ist es so, dass Eltern ihren Sprösslingen vorgeben, was sie machen sollen. In solchen Fällen haben Kinder dann Hemmungen, ihre eigenen Interessen zu entdecken, auszudrücken und weiter zu verfolgen.

Wie kann dies stärker gefördert werden?

Ein guter Weg, die eigenen Kinder im Berufswahlprozess zu begleiten, ist die Erziehung zur Selbstständigkeit. Kinder sollten frei sein, das auszudrücken und zu entscheiden, was sie wirklich wollen. Diese Interessen müssen nicht deckungsgleich mit denen der Eltern sein. Vielmehr sollten Mütter und Väter ihre Kinder dazu ermutigen, den eigenen Weg zu gehen.